Offener Brief zur Unterstützungder russischen Zivilgesellschaft
Russland hat die Ukraine brutal und unrechtmäßig angegriffen. Millionen von Ukrainer:innen fanden sich von einem Augenblick zum nächsten in einer Lage wieder, in der der Kampf um das Leben und die Freiheit zur schrecklichen Realität geworden ist. Das Ausmaß der Gewalt und die Verletzungen jeglicher Rechte und Ethik erklärt die Fassungslosigkeit der gesamten demokratischen Welt.
Ich schreibe diesen Appell aus Russland, wo ich rund drei Wochen vor der Kriegserklärung durch Vladimir Putin, im Rahmen meiner langjährigen Projektätigkeit in dem Land, unter anderem zur Unterstützung der Zivilgesellschaft, eingereist bin.
Die Reaktionen der demokratischen Länder in den letzten Tagen unterstütze ich ausdrücklich und hätte mir schon früher entschiedene Schritte gegen die wachsende Diktatur gewünscht. Die Sanktionen und anderen Beschränkungen, aber auch die Lieferung von Waffen und militärischer Ausrüstung an die Ukraine zielen in erster Linie darauf ab, das Leben von Ukrainer:innen zu retten. Die Moskauer Führung hat sich für den Weg der Isolation Russlands entschieden. Diese Isolation zu erzeugen ist in der Kriegslage, eine der zentralen Abwehrstrategien der EU darin auch Deutschlands.
Da ich mich noch immer im Land des Aggressors befinde, sehe ich aber auch die Kollateralschäden der Isolation. Ich muss daher auch darüber sprechen. Wir in der EU sollten unbedingt vermeiden, unsere russischen Kolleg:innen, Partner:innen und Gleichgesinnten kollektiv mit den Sanktionen und Einschränkungen zu bestrafen. Die Führung in Russland hat, unabhängig vom Ausgang des Krieges in der Ukraine, im Inneren bereits vor vielen Jahren einen Kurs der Repression eingeschlagen, der insbesondere diese Menschen treffen wird.
Eben deswegen brauchen sie jetzt mehr denn je unsere europäische Unterstützung und sollten wir auch antizyklisch handeln. Die Streichung gemeinsamer Bildungsprogramme, wissenschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Initiativen und Kooperationen sowie die Beschränkung der Einreise nach Deutschland werden die isolationistische Politik Putins und seiner Regierung nur unterstützen und die demokratisch gesinnte Zivilgesellschaft und Intelligenz zusätzlich in Bedrängnis bringen.
Auch wenn es derzeit schwer vorstellbar ist und sogar als naiv angesehen werden könnte, möchte ich als in Deutschland lebende russische Staatsbürgerin an eine gute demokratische Zukunft Russlands glauben. Dafür steht die sehr vielfältige Zivilgesellschaft im Land ein.
Ich bitte daher darum, die Beziehungen zur russischen Aktivist:innenngemeinschaft nicht abzubrechen und keine Sanktionen oder Beschränkungen gegen russische Bürger:innen zu verhängen, deren Aktivitäten auf den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft im Lande gerichtet sind. Vor allem möchte ich darum bitten, verfolgten Menschen nicht die Einreise in die EU zu untersagen. Es geht mir in keiner Weise darum, das Leid der Ukrainer:innen zu verharmlosen – doch ich bitte darum, auch das Leid meiner Partner:innen in Russland zu berücksichtigen, die ebenfalls Opfer Putins sind und seiner derzeit unendlich scheinenden Macht ausgeliefert sind.
Dr. Elena Stein,
Leiterin des Center for Independent Social Research Berlin